[...] Im Ernst, es wurde nicht nur hier im Forum vermerkt, dass die einzigen Fernkampfgeschosse die drei Schleuderbleie gewesen wären, die zudem noch entfernt vom Wall und zusammenliegend aufgefunden wurden. Das wurde als Indiz dazu gewertet, dass das römische Heer nicht in der Lage war den Gegner effektiv zu bekämpfen, sondern dass am Wall eine sich auflösende Truppe vorbeigezogen ist und sich wahllos hat abschlachten lassen.
Der Befund der aufgefundenen Geschossspitzen, die über einen weiten Bereich des Walles aufgefunden wurden zeichnet ein ganz anderes Bild. Vor dem Wall in Kalkriese hat ein völlig intaktes römisches Heer gekämpft welches die Germanen hinter dem Wall in die Defensive gedrängt hat. Die Römer hatten Zeit ihre Torsionsgeschütze aufzubauen und einzusetzen. Dabei hatten sie genügend Raum den Bereich zwischen den Geschützen und dem Wall freizuhalten um eine ungehinderte Flugbahn der Geschosse zu gewährleisten. Diese Funde belegen, dass es kein Gedränge in der Kalkrieser Senke gegeben haben kann. [...]
Ich halte diese beiden Gegensätze "sich auflösende Truppe" vs. "völlig intaktes römisches Heer" für sowohl zu statisch als auch zu digital. Der Zusammenbruch eines Heeres spielt sich selten in der Reihenfolge:
[Alle Einheiten völlig intakt] - [schwerer Schlag] - [allgemeine Auflösung] ab.
Gerade in einem stark gegliederten Heer wie dem römischen Dreilegionenheer, mit dem wir es hier zu tun haben, halte ich es für höchst wahrscheinlich, dass selbst ganz am Ende immer noch Überbleibsel von Zenturien oder gar ganzer Kohorten intakt und in Ordnung waren. Es sollen sich ja Überlebende nach Aliso gerettet haben - man kann sich nun müßig darüber unterhalten, ob die Chancen dafür größer waren, wenn man als Einzelner alle schweren Ausrüstungsteile wegwarf und die Beine in die Hand nahm, oder ob sich geschlossene Gruppen in Ordnung und unter einer kompetenten Führung durchschlugen.
Wenn wir davon ausgehen, dass der Heerzug anfangs irgendwas zwischen 10 und 20 km lang war, ist zu vermuten, dass einzelne Kohorten schon am ersten Tag - beim Schwerpunkt der ersten Angriffe - vernichtet wurden, während andere ggf. bis zum letzten Tag noch gar keine Feindberührung hatten oder zumindest nicht in schwere Gefechte verwickelt waren. Darüberhinaus spielt natürlich das Glück mit: Einheiten, die bis zum letzten Tag eine intakte Führung besaßen, hatten eine größere Chance, noch geschlossen und einsatzfähig zu sein, als solche, die ggf. von Anfang an schlecht geführt waren oder ihre Führerverluste irgendwann nicht mehr ersetzen konnten. Hier dürfte sehr viel vom Bestand und der Qualität der Zenturionen und der Prinzipales abhängig gewesen sein.
Ich halte es für durchaus wahrscheinlich, dass am Wall in Kalkriese sowohl eine Horde führungsloser und panischer Einzelpersonen vorbeihasteten (inkl. ggf. der türmenden Reiterei mit dem weniger tapferen Legaten), während gleichzeitig einige intakte Kohorten versuchten, die Besatzung des Walls niederzuhalten oder diesen ggf. sogar anzugreifen. In einer Quelle stand doch, dass die Truppe erst nach dem Selbstmord des Varus sozusagen die Balliste ins Korn warf. Und es sollen doch noch Getreue versucht haben, die Leiche des Varus zu verbrennen.
Dass am Wall gekämpft wurde (intakte Einheit im Flankenschutz) schließt m. E. nicht aus, dass wenige Dutzend Meter weiter der Flüchtlingsstrom gejagt und dezimiert wurde. Dazu passt Paterculus' Nennung der beiden Lagerpräfekten: Der eine ist ein Held, während der andere feige die Übergabe anbietet. Und selbst eine Kohorte, die gerade dabei ist einen Abschnitt des Walls zu erobern und zu zerstören, kann, während sie vorn noch siegreich ist, gleichzeitig in Flanken und Rücken gepackt und aufgerieben werden. Dieses zu meiner Ansicht, dass o. a. Sichtweise zu statisch ist: Es können durchaus noch intakte und disziplinierte Truppenteile mit schwerer Ausrüstung gegen den Wall gezogen sein, die an diesem Tag und an diesem Ort zerschlagen wurden.
Zum freien Schußfeld: Ich gehe davon aus, dass die hartgesottene Profis, die um ihr eigenes Überleben kämpften, sich nicht mehr groß drum kümmerten, welche 'Trottel', 'Feiglinge' oder wahlweise 'arme Teufel' durch ihr Schußfeld rannten. Erstens dürfte auch denen damals ihr Hemd näher gewesen sein als die Joppe, zweitens dürften die in Flüchtenden als Kameraden zur gegenseitigen Unterstützung abgeschrieben gewesen sein.