Konfession, Antisemitismus und NS

Erstaunlich gering sind die Unterschiede zwischen den Groß-, Mittel- und Kleinstädten.
Warum möchte man denn Groß-, Mittel- und Kleinstädte in einer Gruppe zusammensfassen? Ich sehe da große Unterschiede. In meiner Heimatstadt, einer Kleinstadt, wählten im Juli 1932 66% NSDAP (traurig aber wahr) - in Hamburg 33,7%.

schon 1930 stimmte dann ein rund doppelt so hoher Anteil von Nicht-Katholiken wie von Katholiken für die Hitlerbewegung.
Das korrespondiert mit 24,5% NSDAP-Wählern im urbanen Berlin und 51% NSDAP-Wählern im ländlichen Schleswig-Holstein im Juli 1932.

Dieser Unterschied zwischen den Konfessionsgruppen verstärkte sich noch einmal im Juli 1932, als nach unseren Berechnungen 38 Prozent der wahlberechtigten Nicht-Katholiken gegenüber nur 16 Prozent der wahlberechtigten Katholiken NSDAP wählten.
Schau an, auf einmal werden aus jedem zweiten nur noch 38%. Erstaunlich auch wie Falter ein Gesamt-Wahlergebnis von 37,3% für die NSDAP im Juli 1932 rechtfertigen will, wenn 38% der Protestanten und 16% der Katholiken NSDAP-Wähler waren. Das bestärkt bei mir die Zweifel an den Aussagen, die Falter tätigt. Ich vermute den zitierst du in #821
 
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Warum möchte man denn Groß-, Mittel- und Kleinstädte in einer Gruppe zusammensfassen?

Dein sonst sehr gutes Lese- und Denkvermögen scheint heute Nacht etwas getrübt gewesen zu sein.

Dörfer, Groß-, Mittel- und Kleinstädte werden bei Falter zunächst getrennt erfasst, dabei stellt sich heraus, dass der Unterschied zwischen Dörfern und Kleinstädten größer ist als der Unterschied zwischen Klein- und Großstädten.

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Ich sehe da große Unterschiede. In meiner Heimatstadt, einer Kleinstadt, wählten im Juli 1932 66% NSDAP (traurig aber wahr) - in Hamburg 33,7%.

Was wird mit diesen willkürlich herausgegriffenen Extremwerten belegt? Nichts. Es wurde ja nicht nur in Deiner Heimatstadt und in Hamburg gewählt. Statistisch relevante Ergebnisse erhält man, indem man die Gesamtdaten auswertet.

Methodisch ist das Verfahren der „willkürlichen“ Selektion äußerst problematisch. Der Forscher greift aus der Gesamtheit aller Erhebungseinheiten (Städte, Landkreise, Wahlkreise etc.) einige als typisch empfundene oder besonders gut dokumentierte Fälle heraus, von denen aus er dann auf die übrigen, unberücksichtigt gebliebenen Erhebungseinheiten schließt. Oft stellen die herausgegriffenen Einheiten Extremfälle entweder der abhängigen Variablen, des Wahlverhaltens also, oder einer bzw. mehrerer unabhängiger Variablen, zum Beispiel Daten der Sozialstatistik, dar. So werden häufig Gemeinden mit einem besonders hohen und einem besonders niedrigen Katholiken- oder NSDAP-Anteil miteinander verglichen und die derart gewonnenen Erkenntnisse auf weniger homogene, zwischen den Extremen liegende Einheiten extrapoliert. Besonders problematisch ist dieses Verfahren, wie Blalock und Shiveley nachweisen, wenn hierbei die Selektion nach der abhängigen Variablen erfolgt.
[...]
Ohne zusätzliche Informationen, die nur mittels einer systematischen statistischen Analyse gewonnen werden können, liefert das Verfahren der „willkürlichen“ Selektion daher bestenfalls Hinweise auf bestehende Zusammenhänge, jedoch keine wissenschaftlich akzeptablen Belege.​

Wie man den "ökologischen Fehlschluss" vermeidet, kannst Du hier in diesem schon etwas älteren Artikel ab Seite 55 nachlesen:

https://www.ssoar.info/ssoar/bitstr...4-1933_methodische.pdf?sequence=1&isAllowed=y

Erstaunlich auch wie Falter ein Gesamt-Wahlergebnis von 37,3% für die NSDAP im Juli 1932 rechtfertigen will, wenn 38% der Protestanten und 16% der Katholiken NSDAP-Wähler waren.

Erstaunlich ist allenfalls, welchen dicken Denkfehler Du hier produzierst.
Du vergleichst 37,3% der gültigen Stimmen mit 38% bzw. 16% der Wahlberechtigten.
Die Wahlbeteiligung lag bei im Juli 1932 bei 84,1%; 83,4% der Wahlberechtigten gaben gültige Stimmen ab.

Das heißt: Nicht 37,3% der Wahlberechtigten, sondern nur 31,1% der Wahlberechtigten haben NSDAP gewählt.
 
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Auch jetzt würde mich interessieren, auf welche wissenschaftliche Werke sich Dein Urteil zum Forschungsstand stützt.
Es durfte allgemein bekannt sein, dass auch Wissenschaftler Menschen sind, die, wie alle Menschen, den Strömungen des Zeitgeistes unterliegen. Zeitgeist erzeugt eine Erwartungshaltung, die sich unbewusst in das Bewerten von Fakten, ja in das Denken selbst einschleicht. Auch in diesem Forum trifft man ständig auf Aussagen wie diese: Damals dachte man halt so, interpretierte Dokumente anders, zog falsche Schlüsse daraus, etc. Auch heute verwundert es niemand, dass 2 Forscher aus den gleichen Fakten unterschiedliche Schlüsse ziehen, und nur selten bis nie wird einer von beiden seinen Irrtum zugeben.

Warum ist das so? Weil jeder Mensch sich im Laufe der Zeit ein Weltbild zusammengezimmert hat, das nicht oder nicht so leicht ins Wanken gebracht werden kann. Wenn eine epochale wissenschaftliche Entdeckung gelingt, die das Zeug hat, das bisherige Weltbild zu verändern, wird sie erstmal von führenden Wissenschaftlern abgelehnt – siehe z.B. die Ablehnung der Relativitätstheorie Einsteins, die so weit ging, dass es auch nach der experimentiellen Bestätigung seiner Theorie den Nobelpreis nicht dafür bekommen durfte, sondern für vergleichsweise weniger bedeutende Entdeckung des Gesetzes des photoelektrischen Effekts.

Auch die Evolutionstheorie, die nun wirklich gut erforscht ist, wird nach wie vor von bestimmten Forschern angegriffen, die lieber glauben als wissen wollen. Man könnte meinen, sie folgen bewusst oder unbewusst der biblischen Vorgabe, nicht vom Baum der Erkenntnis zu kosten.

Es gibt nicht nur „genius loci“, es gibt auch „genius saeculi“, was man mit Geist des Jahrhunderts übersetzen kann, doch gemeint ist Zeitgeist. Sich diesem Geist ganz zu entziehen, ist praktisch unmöglich – nur wirklich wirtschaftlich unabhängigen Menschen können sich leisten, dagegen aufzubegehren, vorausgesetzt natürlich, sie sind sich über dessen Existenz bewusst.

Man ist nicht allein, sondern eingebunden in Kultur, Weltanschauung, politischen Bedingungen, Architektur, Mode usw., was sein Nachdenken und Urteilen überlagert, ohne dass es ihm wirklich bewusst ist.

In der Historie gab es unzählige Tabus und Denkverbote, die dann abgebaut bzw. durch andere ersetzt wurden und werden. Gerade heute habe ich in der Süddeutschen (kostenpflichtigt) Folgendes gelesen:

Eine freiheitliche Gesellschaft darf wissenschaftliche Befunde nicht tabuisieren, sie muss bereit sein, neue Erkenntnisse zu gewinnen und zu akzeptieren. Sie muss aber auch offen für moralische Impulse sein, die dazu führen, dass bestimmte Meinungen und Verhaltensweisen enttabuisiert werden, während dafür andere, die in der Vergangenheit dominierten, mit Tabus belegt werden. Das ist ein normaler Vorgang des gesellschaftlichen Wertewandels.
(…)
Wer in diversen Themen anderer Meinung ist, könnte befürchten, sich "den Mund zu verbrennen". So lautet eine Formulierung, die das Allensbach-Institut in Umfragen verwendet. Das Institut stellt regelmäßig auch diese Frage: "Haben Sie das Gefühl, dass man heute in Deutschland seine politische Meinung frei sagen kann, oder ist es besser, vorsichtig zu sein?" Im Laufe der Jahrzehnte ist der Anteil derjenigen, die sagen, man müsse vorsichtig sein, deutlich gestiegen (auf zuletzt 44 Prozent). Das wird von vielen als Zeichen für eine Erosion der (gefühlten) Meinungsfreiheit gedeutet.


Wer meint, Wissenschaftler betrifft das nicht, irrt.
 
Auch heute verwundert es niemand, dass 2 Forscher aus den gleichen Fakten unterschiedliche Schlüsse ziehen, und nur selten bis nie wird einer von beiden seinen Irrtum zugeben.

Doch, mich würde das verwundern. Falls Du tatsächlich Schlüsse meinen solltest, die sich widersprechen. Und falls die Fakten nicht in sich widersprüchlich sind - in der Geschichtswissenschaft sind das oft Quellen, von denen die eine dies behauptet, die andere das Gegenteil. Wenn nun der eine Historiker eine Quelle A begründet anzweifelt und für die Glaubwürdigkeit einer Quelle B plädiert, der andere Historiker hingegen ebenso begründet die Quelle B anzweifelt, haben beide recht - die Fakten lassen eine Entscheidung nicht zu, welche Quelle im Irrtum ist.

Zweifel und Widerspruch sind eine elementare Grundbedingung der Wissenschaft, und zwar sowohl gegenüber etablierten Modellen als auch gegenüber spektakulären neuen Thesen.

Auch die Evolutionstheorie, die nun wirklich gut erforscht ist, wird nach wie vor von bestimmten Forschern angegriffen, die lieber glauben als wissen wollen.

Grundsätzlich gilt für die Evolutionstheorie dasselbe wie für jede andere Theorie: Sie darf bezweifelt werden, sie darf angegriffen werden. Auch die Evolutionstheorie ist nicht in Stein gemeißelt, sie hat sich seit Darwin in vielerlei Hinsicht geändert. Und das liegt nicht an dem von Dir beschworenen ominösen Zeitgeist, sondern an einer Unzahl neuer Fakten, angefangen von der Entdeckung zahlreicher fossiler Arten über die Entdeckung der DNA, der Entschlüsselung seiner Struktur usw. usw.

Und nun möchte ich von Dir gern wissen, welche "bestimmten Forscher" Du im Auge hast und bitte um Angabe von Buchtiteln oder zumindest Fachartikeln, die sich auf wissenschaftlicher Ebene mit der Materie befassen (keine pseudowissenschaftlichen Postillen, die kenne ich selber zur Genüge).
 
Das kann man durchaus begründet so sehen.
Seine Aufrufe zu Mord und Misshandlung gegenüber Juden begründete die antisemitische Tradition der Protestanten, die erst nach dem zweiten Weltkrieg überwunden wurde.
Man denke etwa an den kaiserlichen Hofprediger Stoecker zu Zeiten Wilhelms II, oder den Nazi-Bischof Ludwig Müller und seine „Deutschen Christen“.

Sie begründeten durchaus antijudaistische Sentiments, das ist richtig. Aber wenn man Luther nun zum Wegbereiter des Holocaust stilisieren wollte, müsste man in irgendeiner Form auch eine entsprechende Kontinuität zum Holocaust nachweisen.

Die ist aber nicht nachweisbar, weil die intolerante religiöse Lehre Luthers einmal im Kern etwas fundamental anderes ist, als die nationalsozialistischen "Rasse"-Vorstellungen.

Solche Kontinuitäten zu postulieren, hängt sich daran auf, dass sich sowohl Luther, als auch die Nazis judenfeindlich geäußert und zu kriminellen Taten aufgerufen haben, ohne dabei zu berücksichtigen, wie im jeweiligen Kontext der Begriff "Jude" eigentlich zu verstehen war.

Letztendlich werden sowohl bei Luther, als auch bei den Nazis die Feindbilder als "Juden" ettikettiert, sieht man sich aber an, was hinter den jeweiligen Definitionen dieses Begriffs steht, zielte das mitunter auf sehr verschiedene Leute.
Luther interessierte sich nicht dafür, von wem jemand abstammte, er interessierte sich dafür, wozu sich jemand bekannte.
Die Nazis interessierten sich nicht dafür, zu was sich jemand bekannte, sie interessierten sich dafür, von wem jemand abstammte.

Mit allen damit verbundenen Konsequenzen für das darauf folgende Handeln.

Das macht das was Luther von sich gegeben hat, damit wir uns recht verstehen, nicht besser, das würde man nach heutigen Maßstäben schlicht kriminell nennen.
Aber es unterscheidet sich bei näherem Hinsehen doch sehr von dem, was die Nazis in ihren schwerstkriminellen Konzepten erdacht und durchgeführt haben.

Luther ist nach heutigen Maßstäben, was seine Judenschriften angeht ein Verbrecher, aber er ist nicht der Spiritus Rector der Nazis und die Nazis sind nicht der verlängerte Arm Luthers.


Und es waren auch die Protestanten die Hitler wählten, und nicht die Katholiken.

Und wenn du Falters Studie zur Wählerschaft Hitlers gelesen hast, müsste dir in diesem Zusammenhang auch der deutliche Hinweis darauf aufgefallen sein, dass der Umstand, dass Hitler seine besten Ergebnisse in den protestantischen Gebieten hatte, nicht zwangsläufig mit dem Protestantismus der Einwohner korrellieren muss?

Einfach darauf hinzuweisen, dass Hitler besonders stark in bestimmten protestantischen Wahlkreisen gewählt wurde ist für sich alleinstehend ein Pseudoargument.
Das kann man sicherlich diskutieren, aber dann muss man sich die einzelnen Wahlkreise ansehen und auch andere Indikatoren mit heranziehen:

- Demographie der Region
- Wirtschaftliche Perspektive
- Durchschnittliches Bildungsniveau
- Einschneidende Erlebnisse in der jüngeren Geschichte und damit verbundene psychologische Faktoren, etc.

Das Stadt-Land-Gefälle ist in den Beiträgen Anderer bereits angesprochen worden.
Im Hinblick auf Hitlers starke Wahlergebnisse gerade in Ostelbien, wäre z.B. die Kriese der ostelbischen Landwirtschaft anzusprechen, die an der wählenden Bevölkerung nicht spurlos vorbeiging, etc.

Die Sache ist schon etwas komplexer.
 
Die protestantischen Industriearbeiter haben überwiegend SPD oder KPD gewählt. Es war vor allem das protestantische Kleinbürgertum und die Landbevölkerung, die NSDAP gewählt haben. Es ist daher irreführend, gerade Hamburg und Berlin mit eher ländlich geprägten Gegenden im Süden zu vergleichen

Naja, es ist aber ebenso irreführend, aus dem Umstand, dass Hitler seine stärksten Wahlergebnisse in protestantischen Gegenden hatte, gleich eine Korrelation zwischen protestantischer Religion und Wahlentscheidung zu zimmern.

In diesem Zusammenhang, hat das Anführen protestantischer Wahlkreise die gegen Hitler votierten schon als Gegenargument seine Berechtigung.

Natürlich ist auch der Einwand berechtigt, dass das andere soziale Millieus waren, als in den Ostprovinzen, wo Hitler seinen stärksten Rüchhalt hatte.
Wenn man das aber anerkennt, muss man damit auch anerkennen, dass die einfache Gleichung Lutheraner = potentieller Hitler-Wähler ungeachtet von Hitlers Wahlergebnissen in den protestantischen Gebieten erstmal vom Tisch ist und man sich die sonstigen Verhältnisse der jeweiligen Regionen ansehen muss.
 
Wenn man bei der Juli-Wahl zwei ländliche Gebiete miteinander vergleicht, z. B. Schleswig-Holstein mit Niederbayern, dann sieht man schon deutlichen Unterschied: SH mit 51% für die NSDAP und NB mit 20,4%.

Vielleicht zu diesem speziellen Thema ein Erklärungsansatz:

Vergleichen wir mal, wie sich diese Gebiete von einander unterscheiden:

1. Schleswig und Holstein sind spätestens seit dem 19. Jahrhundert Dauerbrenner der nationalen Leidenschaften in der deutschen Öffentlichkeit gewesen.
Bereits in der 1848er Revolution spielt die Schleswig-Holsteinische Frage eine Rolle, die zeitweise zum Kriegszustand mit Dänemark führt, anschließend bleibt das Thema auf der Agenda, führt wegen des Versuchs der Eingemeindung ganz Schleswigs nach Dänemark 1864 erneut zum Krieg.
Und 1918 kommt es eben erneut zu Grenzverschiebungen.

Das beeinträchtigte natürlich das Leben der Leute in den Grenzgebieten und dieser Konflikt ließ sich in bestimmte nationale Motivtraditionen einordnen.

2. Schleswig-Holstein, im Besonderen die Region um Kiel hat wirtschaftlich ganz enorm von der Flottenpolitik des Kaiserreiches profitiert.
Zum einen mussten die Kriegesschiffe ja irgendwo gebaut werden, was für Nachfrage und Boom bei den jeweiligen Werften führte.
Z.B. bei der zum Krupp-Konzern gehörenden "Germania-Werft" in Kiel.

Das sorgte dafür, dass die Werften wuchsen, teilweise Häfen ausgebaut und Garnisonen eingerichtet wurden (Kiel vor allen Dingen) und die damit im Zusammenhang stehende Wirtschaft im Kaiserreich durch die ganzen Staatsaufträge auf soliden Füßen stand.

Damit war es aber 1918 vorbei.
Der Großteil der Hochseeflotte musste abgeliefert werden, größere Neubauten gab es nicht, auch die Reichswehr musste ihren Personalbestand reduzieren und dass musste für die Region einen massiven wirtschaftlichen Bruch bedeuten.
Mit den geographsich günstiger gelegenen Nordseehäfen, konnte man in Sachen ziviler Handelskapazität nicht mithalten, da wurden Kiel, Lübeck und Flensburg gnadenlos abgehängt, sofern sie das nicht bereits waren.


Das sind Einschnitte gewesen, die sich auf die Konjunktur, die Beschäftigungsquote nur ungemein negativ auswirken konnte.

Wenn ich Gründe für den massiven Zuspruch für die Nazis in dieser Region finden wollte, ich würde mich eher mit diesen Umständen befassen, als damit, dass der Großteil der Bevölkerung protestantisch war.
 
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Naja, es ist aber ebenso irreführend, aus dem Umstand, dass Hitler seine stärksten Wahlergebnisse in protestantischen Gegenden hatte, gleich eine Korrelation zwischen protestantischer Religion und Wahlentscheidung zu zimmern.

Die starke Korrelation ist Fakt, egal was Du gern gezimmert haben möchtest. Kann es sein, dass Du auch die Korrelation der Konfessionen mit dem Abschneiden des Zentrums bisher nicht wahrgenommen hast?
Ich verstehe ja, dass Du platte Sprüche à la "Die Protestanten haben Hitler gewählt, nicht die Katholiken" nicht stehen lassen willst, aber gerade fällst Du auf der anderen Seite vom Pferd.
 
Vielleicht zu diesem speziellen Thema ein Erklärungsansatz:

Vergleichen wir mal, wie sich diese Gebiete von einander unterscheiden:

1. Schleswig und Holstein sind spätestens seit dem 19. Jahrhundert Dauerbrenner der nationalen Leidenschaften in der deutschen Öffentlichkeit gewesen.
Bereits in der 1848er Revolution spielt die Schleswig-Holsteinische Frage eine Rolle, die zeitweise zum Kriegszustand mit Dänemark führt, anschließend bleibt das Thema auf der Agenda, führt wegen des Versuchs der Eingemeindung ganz Schleswigs nach Dänemark 1864 erneut zum Krieg.
Und 1918 kommt es eben erneut zu Grenzverschiebungen.

Das beeinträchtigte natürlich das Leben der Leute in den Grenzgebieten und dieser Konflikt ließ sich in bestimmte nationale Motivtraditionen einordnen.

2. Schleswig-Holstein, im Besonderen die Region um Kiel hat wirtschaftlich ganz enorm von der Flottenpolitik des Kaiserreiches profitiert.
Zum einen mussten die Kriegesschiffe ja irgendwo gebaut werden, was für Nachfrage und Boom bei den jeweiligen Werften führte.
Z.B. bei der zum Krupp-Konzern gehörenden "Germania-Werft" in Kiel.

Das sorgte dafür, dass die Werften wuchsen, teilweise Häfen ausgebaut und Garnisonen eingerichtet wurden (Kiel vor allen Dingen) und die damit im Zusammenhang stehende Wirtschaft im Kaiserreich durch die ganzen Staatsaufträge auf soliden Füßen stand.

Damit war es aber 1918 vorbei.
Der Großteil der Hochseeflotte musste abgeliefert werden, größere Neubauten gab es nicht, auch die Reichswehr musste ihren Personalbestand reduzieren und dass musste für die Region einen massiven wirtschaftlichen Bruch bedeuten.
Mit den geographsich günstiger gelegenen Nordseehäfen, konnte man in Sachen ziviler Handelskapazität nicht mithalten, da wurden Kiel, Lübeck und Flensburg gnadenlos abgehängt, sofern sie das nicht bereits waren.


Das sind Einschnitte gewesen, die sich auf die Konjunktur, die Beschäftigungsquote nur ungemein negativ auswirken konnte.

Wenn ich Gründe für den massiven Zuspruch für die Nazis in dieser Region finden wollte, ich würde mich eher mit diesen Umständen befassen, als damit, dass der Großteil der Bevölkerung protestantisch war.

Solche Wahlentscheidungen sind natürlich wohl selten monokausal und in vielen Fällen lassen sich sicher auch jeweils spezifische regionale Gründe finden, warum eine bestimmte Partei in einer bestimmten Region besonders oft gewählt wurde.

Ich denke aber, dass die von Dir genannten Gründe den Wahlerfolg der NSDAP in Schleswig-Holstein höchstens zu einem kleinen Teil erklären können.

1. Im südlich angrenzenden Wahlkreis Ost-Hannover, auf den all diese Gründe nicht zutreffen, hat die NSDAP bei der Juli-Wahl mit 49,5% fast genauso gut abgeschnitten (siehe die schon verlinkten Karten).

2. Wenn man sich die Wahlergebnisse für die Juli-Wahl in Schleswig-Holstein detaillierter ansieht, stellt man fest, dass gerade in den genannten Städten an der Ostsee (Kiel, Flensburg und Lübeck) die NSDAP für SH-Verhältnisse unterdurchschnittlich abgeschnitten hat, während die NSDAP in ländlichen Wahlkreisen teilweise bis um die 70% erreicht hat. Z. B. erhielt sie im Kreis Norderdithmarschen, der von der Flottenpolitik kaum profitiert haben dürfte, 68,5% der Stimmen. Rechnet man noch die Stimmen für DNVP und KPD dazu, wählten dort über 80% der Wähler republikfeindliche Parteien.

Quelle:

AKENS Omland, Wahlstatistische Datenbank, Schleswig-Holstein, Reichstagswahl 31. Juli 1932

(AKENS – Arbeitskreis zur Erforschung des Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein e.V.)

Im Übrigen sprechen auch die geringeren Erfolge der NSDAP im protestantischen Industriearbeitermilieu imho auch deshalb nicht unbedingt per se gegen den Einfluss der Religion auf die Wahlentscheidung, weil die Industriearbeiter sicher zum größten Teil christlich waren, aber die Religion sicher eine deutlich geringere Rolle als bei der Landbevölkerung spielte.
 
Die starke Korrelation ist Fakt, egal was Du gern gezimmert haben möchtest
Eine Korellation, dahingehend, dass die lutherische Konfession zum Wählen Hitlers animiert hätte, ist durch nichts belegt.
Allenfalls könnte man eine Korellation dahingehend ausmachen, dass der lutherische Glaube die Leute moralisch so gar nicht davon abgehalten hat Hitler zu wählen.
Eine Korrelation dieser Art könnte man sicher feststellen, aber das ist ja nicht die Art von Zusammenhang, den @Dion postuliert hatte, der latutete klar darauf, die Lutheraner hätten Hitler gewählt weil der Antijudaismus der lutherischen Judenschriften sie dazu animiert hätte.

Diese Korrelation in dieser Form sehen zu wollen, setzt voraus, dass:

1. Mal per se angenommen wird, dass die entsprechenden lutherischen Schriften der breiten Bevölkerung in diesem Maße überhaupt bekannt waren.
Es wird sicherlich eine ganze Reihe antisemitischer Prediger gegeben haben, wie etwa Herrn Stoecker, die sich mit Sicherheit auch darauf beriefen, aber mir ist keine Studie bekannt, nach der das Flächenmäßig pars pro toto für das gesamte lutherische Deutschland anzunehmen wäre.

2. Und das ist der für mich gewichtigere Punkt, ginge diese postulierte Korellation davon aus, dass Wahlentscheidungen in erster Linie nach Konfessionszugehörigkeit, bzw. Versatzstücken tradierter Überlieferungen getroffen worden wäre und die tagesaktuelle Lage, die Zukunftaussichten etc. dabei allenfalls eine untergeordnete Rolle gespielt hätten.
Diese Annahme halte ich für Unisnn und sie wird auch durch nichts gestützt.


Kommen wir zum Zentrum:

Zunächstmal ist die Zentrumspartei im Gegensatz zur NSDAP eine Partei gewesen, die ganz explizit die Interessen einer bestimmten Konfession aufgegriffen hat.
Sie hat aber nicht nur mit Weltanschaulichem Katholizismus Wahlkämpfe und Politik betrieben, sondern war ja durchaus auch mit der christlichen Gewerkschaftsbewegung verbandelt und hat auch entsprechende sozialpolitische Inhalte geboten.

Ob der katholische Landarbeiter, Arbeiter, Kleinbauer etc. das Zentrum, bzw. die BVP nun gewählt hat, weil sie katholisch war oder ob das allenfalls ein Nebenmotiv war und man demgegenüber vor allem schätzte, dass sie in irgendeiner Form die Belange des Traditionellen Handwerks und der Bauernschaft/Landarbeiter mit vertrat, ohne dabei explizit sozialistisch/kommunistisch zu sein, dass wissen wir überhaupt nicht.
Im Fall der BVP mag auch das reginale Sonderbewustsein Bayerns dabei nochmal eine gesonderte Rolle gespielt haben.

Und damit falle ich durchaus nicht auf die andere Seite vom Pferd.
Es ist möglich, dass solche Zusammenhänge bestehen, es ist aber alles andere als bewisen.

Ich für meinen Teil würde den Umstand, dass Hitler bei den Protestanten so stark war vor allen Dingen darin sehen, dass es schlicht keine Partei gab, deren Haubtklientel die evangelischen Unterschichten in den agrarischen Gebieten waren.
Wenn es so etwas wie dezidiert protestantische Parteien gab, waren das die DVP und die DNVP, aber das waren ausgesprochene Elitenparteien, die dem Agrarproleatriat außer paternalistsichen Floskeln wenig boten.

Meine Vermutung wäre, dass gerade das Agrarproletariat in den evangelischen Gegenden sich darauf verlegte Hitler zu wählen, weil sich sonst niemand um sie als Hauptklientel kümmerte.

- Das Zentrum vertrat die katholischen Interessen, das konnte die protestantischen Teile der Bevölkerung kaum ansprechen. Das in den entsprechenden Gegenden das Zentrum nicht gewählt wurde (in der Regel), kann man vielleicht als Entscheidung betrachten, bei der die Konfession eine Rolle gespielt haben mag, aber nicht in dem Sinne sich zu etwas zu bekennen, sondern im Sinne eines Abgrenzungsbedürfnisses.
- SPD und KPD vertraten die Industriearbeiterschaft in den Städten als ihre Hauptklientel, auch mit der werden sich die ländlichen Wähler Hitlers in aller Regel nicht identifiziert haben.
- DVP und DNVP kümmerten sich zwar um den Osten vertrten aber in aller Regel die Interessen des Großbürgertums und des Großgrundbesitzes gegen die gegenläufigen Interessen der Landarbeiter.
- Was es dazwischen gab, die DDP und andere liberale Parteien waren nun auch alles andere als typische Organisatoren des Agrarproletariats.

Ich würde meinen, eine sehr gute alternative Erklärung die nicht auf ideologische Korrelationen abstellt, besteht einfach darin, dass es keine größere Partei gab, die die Interessen der agrarischen Unterschichten explizit vertrat, sofern diese nicht katholisch oder in Bayern beheimatet waren.
 
Eine Korellation, dahingehend, dass die lutherische Konfession zum Wählen Hitlers animiert hätte, ist durch nichts belegt.
Allenfalls könnte man eine Korellation dahingehend ausmachen, dass der lutherische Glaube die Leute moralisch so gar nicht davon abgehalten hat Hitler zu wählen.
Eine Korrelation dieser Art könnte man sicher feststellen, aber das ist ja nicht die Art von Zusammenhang, den @Dion postuliert hatte, der latutete klar darauf, die Lutheraner hätten Hitler gewählt weil der Antijudaismus der lutherischen Judenschriften sie dazu animiert hätte.

Du scheinst hier Korrelation und Kausalität zu verwechseln. Eine Korrelation ist schon gegeben, wenn es einen statistischen Zusammenhang zwischen zwei Größen A und B gibt. Das bedeutet nicht, das A aus B folgen muss oder umgekehrt. Nicht mal eine gemeinsame Ursache ist nötig. Eine Korrelation kann auch rein zufällig sein.

Korrelation – Wikipedia

Die Korrelation zwischen den Konfessionen der Wähler in der Weimarer Republik und den Parteien, die sie gewählt haben, lässt sich jedenfalls nicht abstreiten. Welche Ursachen das hatte, ist eine andere Frage.
 
Das Reservoir an protestantischen Theologen, die radikale nationalistische, völkische und antisemitische Orientierungen in der Spätphase der Weimarer Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus teilten, ist kaum zu überblicken und extrem weit gefächert.“
https://www.ciando.com/img/books/extract/3847005871_lp.pdf PDF-Seite 15
(Es lohnt sich die ganze Seite zu lesen, und auch den ganzen Artikel von Manfred Gailus und Co-Autor.)

Nun kann man sich fragen ob sich das auch so entwickelt hätte, wenn Luther keine antisemitischen Gewaltaufrufe verbreitet hätte.
Das muss Spekulation bleiben.
Auffallend aber bleibt die weit größere „geistige“ Nähe der Protestanten zu den Nazis.

die Täter haben sich auch nicht auf ihn berufen.

Einen hab ich gefunden. :D Julius Streicher verteidigte sich bei den Nürnberger Prozessen damit, dass er ja nichts anderes geschrieben habe als Luther.
Ein Blättern im „Stürmer“ jedenfalls ergab keinen Hinweis auf Luther. Und in „Mein Kampf“ taucht der Luther ein einziges mal nebenbei auf (zusammen mit Wagner), falls mich die Suchfunktion nicht narrt.
In den Tagebüchern des Goebbels (ich hab nur eine gekürzte Ausgabe, aber immerhin gut 2.000 Seiten) findet sich so gut wie nichts. Immerhin am 16. September 1928 erwähnt er Luther:
Luther gibt uns heute nicht mehr viel. Er war, mit ganz großen Maßen gemessen ein Halber.“

Die Nazis beriefen sich nicht auf Luther, doch fanden sie bei Lutheranern große Sympathien.
 
Du scheinst hier Korrelation und Kausalität zu verwechseln. Eine Korrelation ist schon gegeben, wenn es einen statistischen Zusammenhang zwischen zwei Größen A und B gibt. Das bedeutet nicht, das A aus B folgen muss oder umgekehrt. Nicht mal eine gemeinsame Ursache ist nötig. Eine Korrelation kann auch rein zufällig sein.

Korrelation – Wikipedia

Die Korrelation zwischen den Konfessionen der Wähler in der Weimarer Republik und den Parteien, die sie gewählt haben, lässt sich jedenfalls nicht abstreiten. Welche Ursachen das hatte, ist eine andere Frage.

Du hast recht, dass ich oben den falschen Begriff verwendet habe.
Das mag zu Missverständnissen geführt haben.

Nein, den statistischen Zusammenhang, dass Hitler in den protestantischen Gegenden sehr hohe Stimmanteile gewinnen konnte, den bestreite ich nicht, dass ist ja nunmal ein Faktum.
Ich bestreite aber ganz entschieden den von @Dion unterstellten Kausalzusammenhang zwischen den antijudaistischen Inhalten, die sich in Teilen von Luthers schriften finden und den Wahlergebnissen der Weimarer Zeit.
 
Nun kann man sich fragen ob sich das auch so entwickelt hätte, wenn Luther keine antisemitischen Gewaltaufrufe verbreitet hätte.
Könnte man.
Genau so könnte man sich im Übrigen auch fragen, wie sich die Dinge entwickelt hätten, wenn es einen lutherischen Gegenentwurf zur katholischen Zentrumspartei gegeben hätte, der bereit gewesen wäre die Interessen des Agrarproletariats mit zu vertreten und auf diesem Weg möglicherweise das Zeug zur Volkspartei gehabt hätte.
 
Eine Korellation, dahingehend, dass die lutherische Konfession zum Wählen Hitlers animiert hätte, ist durch nichts belegt.
Hast Du die bisherigen Beiträge gelesen? Stand der Forschung besteht diese Korrelation. Aber Du vermischt ja in diesem Satz Korrelation und Kausalität.
 
Hast Du die bisherigen Beiträge gelesen? Stand der Forschung besteht diese Korrelation. Aber Du vermischt ja in diesem Satz Korrelation und Kausalität.

Siehe 2 Beiträge weiter oben.

Da hatte ich mich in der Tat missverständlich ausgedrückt, was der Sache aber insofern keinen Abbruch tut, als dass @Dion , dem ich explizit widersprochen haben wollte auf Kausalität abstellte.
 
Im Übrigen sprechen auch die geringeren Erfolge der NSDAP im protestantischen Industriearbeitermilieu imho auch deshalb nicht unbedingt per se gegen den Einfluss der Religion auf die Wahlentscheidung, weil die Industriearbeiter sicher zum größten Teil christlich waren, aber die Religion sicher eine deutlich geringere Rolle als bei der Landbevölkerung spielte.

Dem würde ich schon insofern widersprechen wollen, als das große Teile der Industriearbeiterschaft im Kaiserreich und in der Weimarer Zeit nicht selten aus aus den Agrargebieten abgewanderten Landarbeitern bestand oder gerade einmal die erste Generation waren, die wirklich in den Industrieregionen aufwuchs während die eigenen Eltern aus diesen Regionen abgewandert waren.
Die Binnenwanderung von Ost nach West im größeren Stil setzt ja erst in den 1870er Jahren richtig ein.

Schaut man sich die demographische Entwicklung der Ruhrgebietsstädte einmal Modellhaft an, beginnt deren explosionsartiges Bevölkerungswachstum erst in der Zeit ab 1900.
Das ließe sich an den Beispielen von Essen, Duisburg, Bochum und Dortmund nachvollziehen oder in gannz krasser Form an Gelsenkirchen.
Das ist zwar ein wenig zu relativieren, weil da noch Eingemeindungen zu berücksichtigen sind, aber wenn man über den Daumen annimmt, dass jeder 2. oder 3. Einwohner einer der größeren Ruhrgebietsstädte in den 1900er-1920er Jahren ein Zugezogener aus ländlichen Regionen ist, wird man damit nicht falsch liegen.

So schnell ändern sich Wertesysteme nicht.
 
Einen hab ich gefunden. :D Julius Streicher verteidigte sich bei den Nürnberger Prozessen damit, dass er ja nichts anderes geschrieben habe als Luther.
Dabei war Streicher kein Lutheraner, sondern von Haus aus Katholik.
Und ein Dummschwätzer bis zuletzt.

Eine Korrelation dieser Art könnte man sicher feststellen, aber das ist ja nicht die Art von Zusammenhang, den @Dion postuliert hatte, der latutete klar darauf, die Lutheraner hätten Hitler gewählt weil der Antijudaismus der lutherischen Judenschriften sie dazu animiert hätte.
In dieser Hinsicht bin ich ganz bei Dir. Die Korrelation zwischen Konfession und Wahlverhalten schlichtweg zu leugnen, ging mir aber zu weit.
 
In dieser Hinsicht bin ich ganz bei Dir. Die Korrelation zwischen Konfession und Wahlverhalten schlichtweg zu leugnen, ging mir aber zu weit.

Die leugne ich auch gar nicht, da haben wir uns missverstanden, bzw. ich mich falsch ausgedrückt, wie @Nikias dankenswerter Weise schon festgestellt hatte.
Das war in der Tat ein Fehler meinerseits.
 
Wenn ich hier lese, Luthers Schriften würde von den Nazis nicht oft zitiert und die evangelischen Kirchen wären nicht so etwas wie die Steigbügelhalter der Nazis, dann mangelt es wohl an Wissen, ja selbst die Wikipedia wurde anscheinend nicht gelesen – hier einige Daten, die nicht zu leugnen sind:

Der damalige preußische Kulturminister Bernhard Rust wurde am 25. August 1933 im Völkischen Beobachter mit folgenden Worten zitiert:

"Seit Martin Luther seine Augen geschlossen hat, ist kein solcher Sohn unseres Volkes mehr erschienen. Es ist beschlossen worden, dass wir die Ersten sein sollen, die sein Wiedererscheinen erleben ... Ich denke, die Zeit ist vorbei, in der man die Namen Hitler und Luther nicht in einem Atemzug nennen darf. Sie gehören zusammen, sie sind vom gleichen Schrot und Korn"

Aha, Hitler als wiedergekehrter Luther. :D

Laut Steigmann-Gall (2003) würdigte Hans Hinkel, Redakteur der Zeitschrift Deutsche Kultur-Wacht des Lutherbundes und u.a. Leiter der Filmabteilung des Goebbelschen Kultur- und Propagandaministeriums, Luther – Zitat:

"Durch seine Taten und seine geistige Haltung hat er den Kampf begonnen, den wir heute führen werden; mit Luther wurde die Revolution des deutschen Blutes und Gefühls gegen die fremden Elemente des Volkes begonnen. Um seinen Protestantismus fortzusetzen und zu vollenden, muss der Nationalismus das Bild Luthers, eines deutschen Kämpfers, als Beispiel 'über die Schranken der Konfession' für alle deutschen Blutsgenossen lebendig machen."

Laut Daniel Goldhagen veröffentlichte Bischof Martin Sasse, ein führender protestantischer Kirchenmann, kurz nach der Kristallnacht ein Kompendium von Luthers Schriften - Zitat:

"[Sasse] applaudierte der Verbrennung der Synagogen und dem Zufall des Tages und schrieb in der Einleitung: "Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen". Das deutsche Volk solle diese Worte "des größten Antisemiten seiner Zeit, des Warners seines Volkes vor den Juden" beherzigen.

Luthers Vorschläge lesen sich wie ein Programm für die Nazis. Es waren Luthers Worte "Die Juden sind unser Unglück", die Jahrhunderte später als Motto auf der Titelseite von Julius Streichers Der Stürmer erschien. Ich weiß, meistens wird der Satz Heinrich von Treitschke, einem meist gelesenen Historiker seiner Zeit, zugeschrieben, aber der hat ihn nur von Luther abgeschrieben.

Johannes Wallmann, sagte in "Die Rezeption von Luthers Schriften über die Juden von der Reformation bis zum Ende des 19. Jahrhunderts", Lutherische Vierteljahresschrift, 1987 – Zitat:

"Die Behauptung, dass Luthers antijüdische Äußerungen in den Jahrhunderten nach der Reformation von großem und anhaltendem Einfluss waren und dass es eine Kontinuität zwischen dem protestantischen Antijudaismus und dem modernen rassistisch orientierten Antisemitismus gibt, ist in der Literatur derzeit weit verbreitet; seit dem Zweiten Weltkrieg ist sie verständlicherweise zur vorherrschenden Meinung geworden."

Dieser letzte Satz gilt besonders für @Sepiola, der bezweifelt hat, was ich in #824 geschrieben habe, nämlich dass „auch Wissenschaftler Menschen sind, die, wie alle Menschen, den Strömungen des Zeitgeistes unterliegen.“

Zitate aus Wikipedia zur Rezeption von Luthers Schriften über die Juden (Fettschreibung durch mich):

Das NSDAP-Blatt Der Stürmer vereinnahmte ab 1923 oft ausgewählte isolierte Zitate aus dem NT und von christlichen Autoren, darunter Luther, für seine antisemitische Hetze. 1928 stellte das Blatt Luthers späte Judentexte als „viel zu wenig bekannt“ dar.
(...)
Wilhelm Walther (lutherischer Theologe, Anm. Dion) verteidigte das AT und Luthers AT-Deutung als christliches Erbe, gab den Antisemiten aber Recht, sie könnten sich für ihren Kampf gegen das aktuelle Judentum auf Luther berufen. Wie er trennten Alttestamentler wie Gerhard Kittel (evangelischer Professor für Thologie, der bereits 1934 die Vernichtung der Juden forderte; Anm. Dion) die biblischen Israeliten vom aktuellen Judentum, legitimierten die Judenmission aus dem AT und verbreiteten den lutherischen Antijudaismus, indem sie das Judentum als mit dem Christentum unversöhnliche Gesetzesreligion, seine Zerstreuung und Fremdheit als Gottes bleibendes Gericht und den Staat allein für Juden zuständig darstellten. Diese in der Lutherrenaissance typischen Denkmuster trugen wesentlich dazu bei, dass die evangelische Kirche der Judenverfolgung ab 1933 nicht widerstand.
(…)
Der Deutsche Evangelische Kirchenbund begrüßte die „Machtergreifung“ des NS-Regimes (30. Januar 1933) mit großer Begeisterung. Vertreter wie Otto Dibelius lobten beim Tag von Potsdam (21. März 1933) die Beseitigung der Weimarer Verfassung als „neue Reformation“, stilisierten Hitler zum gottgesandten Retter des deutschen Volkes, parallelisierten seine und Luthers Biografien und konstruierten eine gegen Menschenrechte, Demokratie und Liberalismus gerichtete historische Kontinuität von Luther zu Hitler.
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In der NS-Zeit wurden Luthers Judentexte häufig neu herausgegeben. Die Nationalsozialistische Propaganda benutzte sie ebenso wie die rassistischen DC (Deutsche Christen; Anm. Dion) und deren innerkirchliche Gegner.
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1937 und 1938 bekräftigten zwei Artikel, Luther müsse als „unerbittlicher und rücksichtsloser Antisemit“ gelten und die evangelischen Pastoren müssten das viel stärker predigen.

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Im November 1937 beim „Rezitationsabend“ im Residenztheater München zur Propaganda-Ausstellung „Der ewige Jude“ wurden zuerst Auszüge aus Luthers Schriften verlesen. Das „Deutsche Lesebuch für Volksschulen“ von 1943 präsentierte unter dem Titel „Der Jude, unser Erzfeind“ judenfeindliche Zitate „großer Deutscher“, darunter Luther. Das „Geschichtsbuch für höhere Schulen“ (7. Klasse: „Führer und Völker“) von 1941 kommentierte Lutherzitate von 1543: „Keiner vor und nach ihm hat die Juden, diese ‚leibhaftigen Teufel‘, mit solcher elementaren Wucht bekämpft wie er…“.
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Beim reichsweiten „Luthertag“ (19. November 1933) stellten auch nicht zur DC gehörige Theologen wie Paul Althaus Luther und Hitler als verwandte Helden einer „großen nationalen Wende“ und Ahnherren des deutschen Volkstums dar. So betonte der angesehene Lutherforscher Erich Vogelsang gegen den jüdischen Historiker Reinhold Lewin: Luther habe erkannt, dass die ganze jüdische Geschichte seit Jesu Kreuzigung vom Fluch Gottes bestimmt sei. Die jüdische Emanzipation sei ein vergeblicher Fluchtversuch vor diesem Schicksal gewesen.

Erst die „deutsche Revolution“ von 1933 habe nach 150 Jahren wieder sichtbar gemacht, dass die Juden „der sichtbare Gottesfinger des Zornes in der Menschheitsgeschichte“ seien. Daher dürfe die Kirche dem Judentum auf keinen Fall ein göttliches Daseinsrecht zugestehen, sondern müsse wie Luther „alles ‚Judaisieren‘ und ‚Judenzen‘“ als „innere Zersetzung durch jüdische Art“ entschieden bekämpfen und den Staat zum „Durchgreifen“ mit „scharfer Barmherzigkeit“ auffordern.
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Gegen die Novemberpogrome (9./10. November 1938) protestierte keine Kirchenleitung. Einige DC-Kirchenführer rechtfertigten diese Verbrechen mit Luthers Judentexten. Landesbischof Walter Schulz forderte alle Pastoren Mecklenburgs in einem „Mahnwort zur Judenfrage“ am 16. November 1938 auf, Luthers „Vermächtnis“ zu erfüllen, damit die „deutsche Seele“ nun keinen Schaden erleide und die Deutschen ohne „falsche Gewissensbeschwerung getrost alles daran setzen, eine Wiederholung der Zersetzung des deutschen Reiches durch den jüdischen Ungeist von innen her für alle Zeiten unmöglich zu machen.“
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DC-Bischof Martin Sasse stellte in seinem weit verbreiteten Pamphlet „Martin Luther über die Juden: Weg mit ihnen!“ (23. November 1938) ausgewählte Lutherzitate so zusammen, dass die nationalsozialistische Judenverfolgung als direkte Erfüllung von Luthers Forderungen erschien. Dieser „deutsche Prophet“ habe sich, „getrieben von seinem Gewissen“, vom Judenfreund zum „größten Antisemiten seiner Zeit“ gewandelt. Diese Stimmen waren keine extremen Einzelmeinungen, da die meisten evangelischen Kirchenführer die staatliche Judenverfolgung seit 1933 immer wieder bejaht hatten.

Die von elf evangelischen Landeskirchen unterzeichneten „Leitlinien“ vom März 1939 behaupteten, der „artgemäße“ Nationalsozialismus setze Luthers Reformation politisch fort.
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Die 1934 gegründete Bekennende Kirche widersprach staatlichen Übergriffen auf die evangelische Lehre, nicht aber der Judenverfolgung.

Dieser letzte Satz gilt besonders für @El Quijote, der sich in #792 beschwert hat, ich unterschlage bei meinen Ausführungen die Bekennende Kirche.

Weiter in Wikipedia:

Dietrich Bonhoeffer erklärte im Juni 1933 als der erste und fast einzige deutsche Lutheraner, die evangelische Kirche müsse aufgrund ihrer eigenen Botschaft für die Menschenrechte der Juden und anderer verfolgter Minderheiten eintreten und darum staatlicher Politik notfalls widerstehen.

Ende der Zitate, die etwas umfangreicher geraten sind, um auch denen das Lesen zu erleichtern, die hier behaupten, evangelischen Kirchen wären, wenn nicht unschuldig am Aufstieg Hitlers, so doch nicht schuldiger als die katholische Kirche – selbst die Wahlergebnisse wären in überwiegend evangelischen Gebieten angeblich nur zufällig zu Gunsten der NSDAP ausgefallen.

So viel Chuzpe in einem Geschichtsforum hätte ich nicht erwartet.
 
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