Um das zu beurteilen müsste ich Beins Arbeit lesen. Eigentlich spricht Treitschkes ganze Argumentationsschiene nicht so recht mit dem von Luther zusammen- er argumentierte ja nun gerade nicht rassistisch, er hielt die Lehren von Marr und Dühring für falsch, er versprach sich von Assimilation der Juden die Lösung oder eine Lösung, und er dachte nicht daran, Synagogen niederzubrennen. Er war aber auch Populist, und Luther war einfach eine Persönlichkeit, der zitierfähig war, der großes Ansehen genoss.
Die antijüdischen Schriften Luthers hat er aber gerade nicht zitiert, und ob er sie im Originalwortlaut gelesen hat, halte ich für fraglich.
Er hat allerdings Zitate dieser Schriften gelesen bei Heinrich Graetz,
Geschichte der Juden von den Anfängen bis auf die Gegenwart, und es hat ihn offensichtlich sehr gestört, dass Luther dadurch in schiefem Licht erscheint.
In seinem Pamphlet
Unsere Aussichten greift er Graetz dann auch direkt an:
Man lese die Geschichte der Juden von Graetz: welche fanatische Wuth gegen den "Erbfeind", das Christenthum, welcher Todhaß grade wider die reinsten und mächtigsten Vertreter germanischen Wesens, von Luther bis herab auf Goethe und Fichte!
In seiner Erwiderung an Herrn von Treitschke schrieb Graetz am 7. Dezember 1879 in direktem Bezug zu diesem Satz:
Illoyal ist Ihre vom Zaum gebrochene Anschuldigung gegen meine Geschichtsdarstellung, daß sie "Todhaß gerade wider die reinsten und mächtigsten Vertreter deutschen Wesens von Luther bis herab auf Goethe und Fichte" enthalte. Ich habe im Gegentheil die überwältigende Größe dieser Heroen ins rechte Licht gesetzt. Von Luther schrieb ich (Band IX, Seite 191 fg.): „Diese Natur war beherrscht von Gottdurchdrungenheit, von einer in dieser Zeit beispiellosen Hingebung an Gott und die Anforderung des Glaubens... auch von einem fleckenlosen Wandel und wahrhafter Demuth!" Athmen diese Worte Todhaß? Aus Luthers kleiner Schrift: daß Jesus ein geborener Jude gewesen, zog ich einen Passus aus (S. 211), der recht zeitgemäß ist: „Unsere Narren, die Papisten... haben bisher also mit den Juden verfahren, daß wer ein guter Christ gewesen, hätte wohl mögen ein Jud werden, und wenn ich ein Jude gewesen wäre und hätte solche Tölpel und Knebel das Christenthum regieren und lehren gesehen, so wäre ich eher eine Sau geworden, als ein Christ." Durfte ich aber nach diesem verschweigen, was Luther 20 Jahre später in der Hitze des Kampfes gegen auftauchende Sectirer und gereizt durch eine anonyme polemische Schrift eines Unitariers (hinter der Luther einen jüdischen Autor vermuthet hatte) im Widerspruche mit seinen eigenen Worten Liebloses gegen Juden geschrieben und gepredigt hat? Er verlangte, daß man ihre Synagogen einriß, ihnen sogar die heiligen Schriften entziehe, ihre Häuser zerstöre, sie in einen Stall wie Zigeuner einsperre und noch viel Härteres. Sie werden doch nicht für Luther Unfehlbarkeit beanspruchen? Ist es überhaupt eines Historikers würdig, in der treuen Geschichtserzählung Blasphemie zu suchen?
Treitschkes ausführliche Antwort
Herr Graetz und sein Judenthum vom 15. Dezember 1879 wiederholt den Vorwurf, über Goethe und Fichte in "gehässigen Worten" geschrieben zu haben; von Luther ist dagegen überhaupt nicht mehr die Rede. In Bezug auf Graetz' Buch, dem er unkorrekterweise die Formulierung 'Erbfeind' unterschoben hatte, schreibt er: "ich bekenne daß ich den Band schon im letzten Sommer gelesen und mir keine Notizen daraus gemacht habe".
Zitate aus:
Der "Berliner Antisemitismusstreit" 1879-1881 (Hrsg. Karsten Krieger), München 2003
Eine zeitgenössische protestantische Sicht zu Luthers antijüdischen Spätschriften von Friedrich Lezius (Professor der Theologie an der Universität Königsberg) enthält der Artikel
Luthers Stellung zu den Juden (Baltische Monatsschrift XXXIX, 1892):
Es liegt auf der Hand, daß Luther hier nicht aus dem Geiste des neuen Testamentes und der Reformation heraus argumentirt und Forderungen aufstellt, vielmehr erweist er sich hierin als übermannt vom mißverstandenen alten Testament und von mittelalterlich, vom Evangelium gerichteten Wahnvorstellungen. Die evangelische Kirche hat daher die Irrthümer des alternden Revormators als für sich nicht maßgebend abgelehnt und sieht in der Schrift Luthers, daß Jesus Christus ein geborener Jude sei, welche 1523 erschien, den wahren Ausdruck reformatorischen Geistes.
[...]
Diese Rathschläge Luthers, so sehr sie ihm am Herzen lagen, hat das deutsche Volk nicht befolgen wollen, weil sie sich mit dem Evangelium und den Begriffen moderner Humanität nicht vertragen. Die Forderung, die Juden als Feinde Christi aus dem Lande zu jagen, die Luther aufstellt und so eifrig begründet, ist unprotestantisch und als Nachwirkung der katholischen Staatsanschauung zu betrachten. Es hat die Christenheit daher wohlgethan, diese Ermahnungen des gewaltigen Mannes unbeachtet zu lassen. Ueber die socialpolitische Begründung der gewaltsamen Einschränkung der jüdischen Uebermacht, die Luther vorbringt, läßt sich reden. Daß Luther sich aber schwer irrte, als er aus religiösen Gründen die Vertreibung der Juden forderte und für ihre strafrechtliche Verfolgung eintrat, kann für einen evangelischen Christen keinem Zweifel unterliegen.
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