Das kann ich bestätigen: Mittellatein ist viel einfacher zu lesen, als Klassisches, zumindest, wenn man romanische Sprachen kann. Es ist stilistisch einfacher. Latinisten sprechen nicht von ungefähr von der Goldenen und Silbernen Latinität. Die Vertreter der Goldenen Latinität sind Caesar und Cicero, die der Silbernen Tacitus, Plinius und Sueton. Insbesondere die Annalen sind ja gewissermaßen Tacitus' Spätwerk. Also geschrieben, als er etwa 60 Jahre alt war (Tacitus wird um 56 geboren sein, er starb vermutlich kurz nach Hadrians Machtübernahme, um 120).
Die Erfahrung kann ich bestätigen, auch dass Vorkenntnisse (Grundkenntnis) anderer romanischer Sprachen sehr hilfreich sind. In mittelalterlichen Urkunden begegnen immer wieder bestimmte Formeln und Redewendungen, Ablativus absolutus, ACI und Partizipialkonstruktionen sind in der mittellateinischen Literatur sehr selten.
Das Latein der sogenannten Silbernen Latinität dürfte auch für Muttersprachler mit kleinem Latinum eine Herausforderung gewesen sein. Bei Plinius und Tacitus begegnen einem häufig Vokabeln in einer bestimmten Bedeutung, die sich in vielem vom Latein Sallusts und Caesars unterscheidet. Die "brevitas" von Autoren der Silbernen Latinität, das beiordnende Bindewörter wie "und" häufig fehlen, dass Prädikate die aus dem Textzusammenhang sich selbst verstehen ausgelassen werden (Ellipse), dass statt eines Gliedsatzes ein Hauptsatz eingeschoben wird (Parenthese), der historische Infinitiv, das ist alles recht gewöhnungsbedürftig.
Ich erinnere mich noch, dass viele bei Plinius Briefen völlig auf dem Schlauch standen und ohne Reclam-Übersetzung völlig hilflos waren. Unser Lateinlehrer war ein Kreuz, obwohl den schon lange der grüne Rasen deckt, fällt mir aber auch gar nichts ein, was für ihn sprach.
In unserem Lateinkurs hat nicht einmal ein Drittel am Ende das Latinum mit nach Hause genommen, und in der 11. Klasse kamen die, die Latein als erste Fremdsprache genommen hatten noch dazu. Da brauchte er dann auch vom Leistungsniveau keine Rücksicht mehr zu nehmen, mit dem Resultat, dass begabte, keineswegs dumme Schüler ein versetzungsgefährdendes Todesfach bekamen, das ihnen auf Jahre die Schule verleidet hat, dass nicht mal 10 Schüler am Ende das Latinum mitnahmen und von denen-darauf würde ich jede Wette abschließen- nicht einmal ein halbes Dutzend übrigblieben, die heute noch in der Lage wären, einen ganz simplen lateinischen Satz übersetzen zu können- und da rede ich nicht von Plinius oder Tacitus.
Wie ich es geschafft habe, ordentlich Latein zu lernen, das ist mir selbst ein Rätsel.
Ich bin aber davon überzeugt, dass man Lateiner, die ein einigermaßen solides Vokabular und eine solide Grammatik mitbringen, mit etwas Vorbereitung auf Eigentümlichkeiten der Silbernen Latinität so vorbereiten kann, dass sie die Übersetzung meistern können.
Das wäre der Arbeitsaufwand von einem Nachmittag gewesen, und es hätten die Schüler aus 5 Jahren Lateinunterricht nicht nur das Latinum, sondern auch ein paar Grundkenntnisse mitgenommen.
Was bei mittellateinischen Autoren allerdings etwas rausfällt, das ist Heinrich Institoris und der Hexenhammer. Sich durch dessen Gestrüpp von Schachtelsätzen durchzukämpfen und dabei einen roten Faden im Auge behalten zu können, halte ich für mindestens so frustrierend wie sich als mäßiger Lateiner bei Plinius-Übersetzungen ein Aha-Erlebnis zu verschaffen. Ich musste dabei in diesem Zusammenhang an den Brief denken, der von einem Jungen handelt, der an der (afrikanischen?) Küste Freundschaft mit einem Delphin schloss.