Wieso funktioniert so etwas heute?
Weil man es professionalisiert hat, und weil es in den meisten Gesellschaften heute einen kulturellen und zivilisatorischen Rahmen gibt, der das auch zulässt.
Natürlich wird es immer irgendwo Überläufer gegeben haben, die man ein paar unsystematische Informationen übermittelt haben, aber professionelle, aktive Spionage, erfordert neben den angesprochenen sozialen Strukturen dann eigentlich auch technische Möglichkeiten in der informationserfassung, - Verarbeitung und Übermittlung, die erst seit dem vergangenen Jahrhundert aufgekommen sind, oder die vielleicht in Ansätzen im 19. Jahrhundert implementiert wurden.
----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Datenerfassung&Übermittlung:
Heute ist es ja so, dass alle möglichen Daten in Regierungsorganisationen zusammenlaufen und gespiechert werden, womit Spione das vielfach nicht selbst zusammentragen müssen, sondern gegebenenfalls das bereits von anderer Seite Zusammengetragene anzapfen und übermitteln können.
Nun gab es eine derartige Organisation im Germanien der beginnenden römischen Kaiserzeit nicht und die Informationslage der cheruskischen Anführer dürfte selbst eher prekär gewesen sein.
Aufbau eines größeren spionagenetzwerkes in einem nicht wirklich pazifizierten Gebiet, in dem kein einigermaßen gefahrloses Reisen möglich ist und ohne genügend Personen zur Hand zu haben, die Sprache und Gebräuche kennen und mit der lokalen Bevölkerung in Kontakt treten können, ist auch schwierig.
Und dann ist da natürlich noch das Problem mit der Übermittlung. Seit dem Aufkommen, der optischen und später der elektrischen Telegraphie als alphabetbasiertem System und entsprechenden Verschlüsselungen, die es erlauben, relativ komplexe und präzise Berichte sicher innerhalb kürzester Zeit zu übermitteln, gibt es natürlich das Problem mit den unklaren Angaben und dem Delay nicht mehr so stark.
Aber in der Zeit berittener Boten (die sich ggf. in schlecht bekanntem Territorium auch mal verlaufen oder in nicht pazifiziertem Territorium überfallen werden), konnte es natürlich leicht passieren, dass die Informationen, in dem Moment, in dem der Empfänger sie bekam schon veraltet waren.
Seine eigenen Aktionen an veralteten Informationen auszurichten kann militärisch aber ziemlich schief gehen.
Und dann kommt natürlich noch hinzu, dass es keine umfangreichen Explorationen, Kartographien oder Vermessungen von Seiten der Römer im Großteil der germanischen Gebiete abseits der römischen Stützpunkte gab, was natürlich den Wert von Informationen senkt.
Zu wissen, dass irgendwo ein Aufstand stattfindet oder Truppen dafür zusammengezogen werden, ist das eine, nutzt aber militärisch nicht viel, wenn man den genauen Standort und die Bewegungsgeschwindigkeit des Feindes, mindestens an Hand grober Landmarken nicht einigermaßen präzise einschätzen kann.
Zivilisatorischer/Kultureller Rahmen:
In erster Linie sind für Spionagenetzwerke ja Dissidenten innerhalb eines gegnerischen/feindlichen Landes interessant, wenn man entsprechende Kooperationen aufbauen möchte.
Das funktioniert aber natürlich nur deswegen, weil es in den meisten Gesellschaften (auch in denen, die sowas wie Menschenrechte/Grundrechte eher nicht anerkennen) mittlerweile einen Konsens gibt, dass Dissidenten, so lange sie nicht potentiell gefährlich sind, in der Regel nicht einfach umgebracht oder vertrieben werden und sei es nur um eine Beschädigung des eigenen internationalen Ansehens zu vermeiden.
Aber die germanischen Stammesgesellschaften funktionierten da ja nach etwas anderen Gesetzmäßigkeiten, zumal Dissidententum ja in der Regel so etwas wie organisierte und einigermaßen verlässliche Macht- und Gesellschaftsstrukturen vorraussetzen, die Abwendung einzelner, sich benachteiligt sehender oder moralisch nicht einverstandener Gruppen vom System produzieren können.
Dissident zu werden, und mit ausländischen Mächten gegen die eigene Regierung zu konspirieren ergibt ja vor allem dann einen Sinn, wenn eine Person zu dem Schluss kommt, Dinge, die ihr falsch erscheinen von innerhalb des Systems nicht mit legalen oder jedenfalls als legitim betrachteten Mitteln zu beeinflussen und ändern zu können, weil die Machtstrukturen als übermächtig empfunden werden.
Nun dürften die Machtverhältnisse innerhalb der germanischen Stammesgesellschaften allerdings, weil das keine organisierte Herrschaft und kein festes politisches System war, sondern vom Ansehen einzelner Personen und der Stärke ihrer jeweiligen Klientelverbände abhing, hoch fluide gewesen sein und offene Kämpfe um die Macht als legitim gegolten haben.
Wenn aber die Machtverhältnisse fluide sind, sind auch die Gruppen, die damit ggf. nicht einverstanden sind hoch fluid, was es schwierig machen dürfte stabile Dissidentennetzwerke aufzubauen, die konstant an Informationsbeschaffung arbeiten.
Zudem stellt sich natürlich auch die Frage, nach der Handlungslogik in solchen Stammesgesellschaften, auf Seiten derer, die mit den vorhandenen Verhältnissen nicht einverstanden sind.
Wenn z.B. das Herausfordern und Besiegen des aktuellen Anführers im Zweikampf oder dessen Ermordung die Machtverhältnisse in einer Gesellschaft komplett umdrehen können, weil sie nicht durch Institutionen organisiert ist, die über den Tod eines Machthabers hinaus funktionieren, sondern durch Personenverbände, Clanstrukturen und Klientelverhältnisse organisiert ist, dürften Unzufriedene zum Teil ganz andere Methoden der Konspiration mit auswärtigen Mächten vorziehen, die dürfte erst interessant werden, wenn die anderen Methoden versagt haben.
Vorrausgesetzt, die Unzufriedenen überleben das Versagen der anderen Methoden irgendwie und fallen nicht der Rache zum Opfer.
Ich würde meinen, ausgefeilte, großflächige, professionelle Spionage/Sabotage setzt technische und kulturelle Fundamente vorraus, die in der Römischen Kaiserzeit zumindest im Barbaricum nicht vorhanden waren.