Nochmal zurück zum Thema 1903 und deutscher Angriff auf die USA.
Eine detaillierte Aufbereitung mehrjähriger deutscher Angriffspläne gibt es in dem Mammutwerk von Fiebig-von Hase: Lateinamerika als Konfliktherd der deutsch-amerikanischen Beziehungen 1890-1903 (sageundschreibe 1195 Seiten), aus 1986.
Danach kann man tatsächlich nicht von Sandkastenstudien für die Ausbildung ausgehen. Kennzeichnend ist
- eine Offensivstrategie der Flotte, auch tzum Schutz des eigenen Überseehandels
- das Streben nach Stützpunkten als Voraussetzung für
- die Doktrin der Entscheidungsschlacht bei
- bis 1906 als vernachlässigbar eingeschätzter USA-Marine
Eine militärische Beurteilung dieser Komponenten gab es 1899, diese formulierte die Offensivstrategie aufgrund des deutschen Zufuhrhandels, während die USA nicht von Seeverbindungen abhängig seien. (BA-MA: Entwurf des AStM vom Dez. 1899). In der ersten Phase sollten zudem gegen westindische Besitzungen vorgegangen werden, mit Einrichtung eines Stützpunktes in Culebra. Ein Lösungsvorschlag, wie die USA-Flotte gestellt werden könne, konnte bis 1906 nicht erarbeitet werden.
In den Aktenvermerken von Manthey wurde die Schlagkraft der USA-Flotte als "vernachlässigbar" eingeschätzt (Studien 1898 und 1899), so dass die Seeherrschaft bei Konzentration von Flottenteilen auf die deutsche Seite übergehen würde. Die 1898-Planung sah die Besetzung Norfolks, Hampton Roads und Newport News vor, ggf. Flottenstreitkräfte vor New York. Zu dem Aktenvermerk gab es eine gutachterliche Studie von Vizeadmiral Thomson, der die Unterschätzung der US-Seestreitkräfte rügte. Thomson ergänzte die Planungen um eine Besetzung von Puerto Rico, um die US-Flotte dorthin zu ziehen. Schläge gegen die Städte, wie Washington, Baltimore und Philadelphia würden außerdem nach seiner Einschätzung die USA nicht zum Freiden zwingen können.
Die militärischen Überlegungen erschöpften sich nicht als "Winterspielchen" (Fiebig-von Hase, S. 492) in der Begutachtung durch höhere Offiziere. Bendemanns Direktiven vom Februar 1899 ergänzte um Kampfhandlungen vor Nova Scotia, Neufundland und den Inseln von Neuengland, Aktionen gegen die Westküste und im Pazifik wurden verworfen. Aufgrund der Witterungsverhältnisse müßten die Konfrontationen außerdem im Sommer stattfinden. Auch er bezog sich auf die Einnahme Puerto Ricos mit dem Ziel eines festen Stützpunktes, möglichst mit einer provozierten Entscheidungsschlacht, nach der erst gegen die US-Küsten punktuell vorgegangen werden solle.
Der deutsche Marineattachee in Washington (Rebeur-Paschwitz) schaltete sich in diese Abwägungen im Januar 1900 ein und schlug einen Angriff auf Boston vor, der mit nachfolgender Einrichtung von Stützpunkten in Cape Cod Bay und Provincetown ein Mittel sei, die USA zum Frieden zu zwingen. Operationen gegen Kuba und Purto Rico seien auch nach einer Entscheidungsschlacht der Flotten dazu nicht geeignet, Denkschrift an Tirpitz vom 26.1.1890, BA-MA Kopie mit Anmerkungen Eckermanns vom 7.4.1900 (Leiter der Abteilung B V beim AStM). Die Attacheeberichte gelangten an Kaiser Wilhelm II., der Admiralstab und Generalstab zu dieser Frage zum Vortrag befahl. Deswegen wurde am 1.5.1900 der Große Generalstab in die Frage eines Offensivkrieges gegen die USA offiziell hinzugezgen.
Schlieffen reagierte auf diese Hinzuziehung nicht, da ihm die Pläne des Admiralstabes zu abenteuerlich erschienen. Es bedurfte zweier Mahnungen von Diederichs an Schlieffen (28.11. und 1.12.1900) zur Antwort auf den Vorschlag für den gemeinsamen Vortrag beim Kaiser. Schlieffen kam es dann bei der gemeinsamen Antwort an den Kaiser darauf an, von Operationen gegen die USA-Küste abzulenken und die Planung auf einen Angriff auf Kuba zu beschränken.
Das provozierte eine weitere Mahnung des AStM an Schlieffen vom 25.2.1901, die Vorarbeiten auch "auf die Invasion in das Festlandsgebiet" vorzusehen. Schlieffen erteilte ihm eine Absage, da die Besetzung von Cape Cod zwar möglich sei, es jedoch schwierig sei, von dort weiterzukommen. Schlieffen schätzte, dass gegen Boston rd. 100.000 Mann auf deutscher Seite eingesetzt werden müßten, gegen Kuba jedoch nur 50.000. Die Absage des Generalstabes führte zum Scheitern weitergehender gemeinsamer Überlegungen der Marine weswegen Diederichs die Marineplanungen nun ohne Kooperation mit dem Großen Generalstab weitertrieb.
Es entstand damit der "O-Plan III" vom März 1903, der als Kern Puerto Rico und Aktionen gegen US-Häfen vorsah, um die Entscheidungsschlacht zu erzwingen. Die Marine überstellte diesen Plan wieder an K.W. II, bis der Plan 1906 zur Ablage in den Akten verschwand. Eingriffe von K.W.II erfolgten in der ganzen Angelegenheit nicht, die Planungen drifteten zwischen den genannten Stellen (unter Einbeziehung des Auswärtigen Amtes).
Fiebig-von Hase, S. 472-513). Der Höhepunkt der Planungen ist vor dem Hintergrund der Venezuela-Krise 1902/03 zu sehen.
Quellen nach der zitierten Literatur insbesondere:
Admiralstab der Marine (AStM) RM 5/5960-5963 "Vorbereitung der O-Pläne gegen Nordamerika", 4 Bände, März 1899 - 1906