Ich hab mir nochmal den Wohlforth [1] reingezogen.
(Danke an Silesia für den Hinweis darauf.)
Wie schon bei dem Thema gewohnt, werden die Fragen dabei nicht weniger.
Wohlforth untersucht die damaligen Einschätzung der militärischen Stärke Russlands.
Hier unterscheiden sich die Wahrnehmungen der Entscheidungsträger verschiedener Nationen durchaus.
Besonders hoch wird die militärische Potenz Russlands durch GB eingeschätzt , und besonders niedrig durch das DR und
durch Russland selbst.
In no other country with the possible exception of Germany was the assessment of Russian power lower than in Russia herself.55
– PDF-Seite 14
Hier decken sich die Wahrnehmungen insofern, als man Russland für eben noch nicht, oder nur eingeschränkt, kriegsbereit hält.
Es wäre also naheliegend anzunehmen, dass Russland eine Haltung wie in der Bosnischen Anexionskrise eingenommen hätte.
Das war jedoch nicht Fall, sondern es hielt es für angebracht Stärke zu zeigen.
Weitere Unterschiede fallen auf:
Obzwar der Aufrüstungsprozess, mit dem notwendigen Eisenbahnbau, noch bei weitem noch nicht durchgeführt ist, fühlt sich indes Russland mittlerweilen stark genug eine Abschreckungspolitik zu betreiben.
Und Russland kennt mittlerweilen den Schlieffenplan.
Dies führt dazu, dass es eine Offensivstrategie verfolgt.
Denn wenn es dem DR gelänge Frankreich schnell niederzuwerfen, dann stünde Russland dem, als überlegen angesehenen, DR alleine gegenüber.
Even more important, however, was the Russians' shift from a defensive to an offensive strategy, a shift stemming both from an increased estimate of their own capabilities and from the conclusion reached by the Russian general staff that Germany would devote the bulk of its army to the western front at the outset.23 This knowledge essentially forced the Russians to accept the French argument on the prime importance of a rapid offensive against Germany: if France fell, Russia herself would be at the mercy of Germany
PDF-Seite 8 [1]
Nun hätte die Kenntnis des Schlieffenplans Russland insofern von einer Vollmobilisierung abhalten können, als es befürchten musste eben damit diesen, und das damit einhergehende Verhängnis, in Gang zusetzen.
Denn es musste eigentlich klar sein, dass der Schlieffenplan nur in einem sehr engen Zeitfester verwirklicht werden konnte.
Und zudem ist Russland in der eigenen Wahrnehmung nur bedingt auf eine große militärische Außeinandersetzung vorbereitet, während es später durchaus hierfür gerüstet wäre.
Und tatsächlich kündet Russland am 28 Juli zunächst nur eine Teilmobilisierung an, die man als eine Abschreckungsmaßnahme gegenüber Ö-U betrachten kann.
Jedoch unmittelbar darauf wird die politische Führung von den Militärs darüber in Kenntnis gesetzt,
dass es hierfür nicht nur keine Planung gäbe, sondern es sogar so wäre,
dass eine Teilmobilisierung eine spätere Vollmobilisierung mindestens erheblich erschweren würden, wenn nicht gar unmöglich machen würde.
Van Evera [2] zieht daraus den Schluss, dass in dieser Weise die russische Staatsführung durch das Militär vor die Entscheidung gestellt wurde, entweder eine Vollmobilisierung durchzuführen, oder einen kompletten Rückzug zu machen. Diese habe sich schließlich für die erste Option entschieden,
Thus Russian leaders were forced to choose between full mobilization or complete retreat, choosing full mobilization on July 30.
PDF-Seite 30.
Kann man sich das so vorstellen?
Dass also Russland keine ausreichend kompetente Führung hatte, um gefährliche Stolperschritte in die nächste Eskalationsstufe zu unterlassen?
[1]
http://www3.nccu.edu.tw/~lorenzo/wohlwforth perceptions of power russia.pdf
[2]
http://home.sogang.ac.kr/sites/jaechun/courses/Lists/b7/Attachments/2/Cult of Offensive.pdf