Vorsicht, jetzt wird's trocken.
Hoffentlich kann ich trotzdem aufzeigen, warum der Fall ziemlich bedeutend ist und einige spannende Folgen haben kann.
@El Quijote &
@dekumatland
Man wird nicht umhinkommen, das konkrete Wissen und Wollen des möglichen Mittäters zu berücksichtigen, denn darauf stellt das deutsche Strafrecht nun mal ab. Der Grad des verwirklichten Unrechts bemisst sich am Vorsatz des Handelnden, und nur mittelbar am Handlungserfolg.
Beispiel: A erschießt den B, weil er ihn mit dem ähnlich aussehenden C verwechselt hat, den er eigentlich um die Ecke bringen will.
Hier wird A nicht wegen Mordes an B verurteilt werden, sondern wegen Mordversuchs an C und Totschlags an B. Er hatte nicht den Vorsatz, B zu töten.
Im Stutthof-Fall tun sich zwei Probleme auf.
Problem 1: Nach unserem Strafrecht muss der Mittäter mindestens mit dolus eventualis (Eventualvorsatz) hinsichtlich der Haupttat gehandelt haben. Das heißt, es kommt nicht darauf an, ob der Mittäter die Folgen seines Handels von ganzem Herzen gewollt hat (er kann ja z.B. völlig gedankenlos handeln); aber er muss die Folgen seines Handelns mindestens vorausgesehen und billigend in Kauf genommen haben.
Bei der Mittäterschaft besteht die Tathandlung in einem entweder physischen oder psychischen Beitrag zur Haupttat.
Beispiel: A fährt für den Bankräuber B einen Fluchtwagen.
Beispiel: A redet auf den noch unentschlossenen B ein, er solle sich vorstellen, was er mit der Beute alles kaufen könne.
Der Tatbeitrag muss jedoch auch nicht unerheblich gewesen sein.
Beispiel: A plant einen Mord und besorgt sich dafür Plastikhandschuhe, damit er keine Spuren hinterlässt. B, der dies weiß, leiht A seine Lederhandschuhe, "weil die bequemer sind".
B ginge hier nicht straflos aus, würde aber jedenfalls nicht wegen Beihilfe zum Mord verurteilt. Er trägt zum Mordplan des A nichts bei; der könnte auch ohne bequeme Lederhandschuhe morden und keine Spuren hinterlassen (er hat seine Plastikhandschuhe ja bereits).
Das heißt: Irmgard F. müsste vorausgesehen haben, dass sie durch ihre Arbeit im KZ Stutthof die SS-Männer im Morden bestärkte (gleichsam anfeuerte), und es müsste ihr mindestens egal gewesen sein, dass dem so war.
Die SS mordete aber sowieso, war zur Tat fest entschlossen. Falls F. der Überzeugung war, dass es keinen Unterschied machen würde, ob sie nun in der Kommandantur brav Briefe abtippte oder nicht, könnte das gegen eine Strafbarkeit sprechen. Sie hat sich im Prozess wohl auch zumindest eingangs dahingehend geäußert (durch ihren Anwalt), dass sie sich für unbedeutend hielt.
Wohlgemerkt: Ich war beim Prozess nicht dabei, kenne nur die Zusammenfassung aus der NJW; ich weiß nicht, ob man ihr nachweisen konnte, dass sie sehr wohl glaubte, ein wichtiger Teil der Mordmaschine zu sein. Aber jedenfalls wollte ich es erwähnt haben, denn das Urteil damals wurde in der Literatur durchaus kontrovers diskutiert.
Problem 2: Nach Lehre und Rechtsprechung begründen sogenannte neutrale Handlungen mit Alltagscharakter keinen strafbaren Tatbeitrag.
Beispiel: B weiß, dass sein cholerischer Nachbar A mit seiner Noch-Ehefrau C einen erbitterten Rosenkrieg führt. Eines Tages kommt A wütend zum B, um sich dessen Axt auszuleihen. B denkt sich nichts dabei und gibt sie ihm. A geht schnurstracks zur C zurück und erschlägt sie.
In einem solchen Fall hat der BGH die Strafbarkeit des B verneint, weil man nicht erwarten könne, dass sich die Menschen bei einer Handlung, die in jedem anderen Kontext unverfänglich wäre, Gedanken machen, ob sie gerade jetzt eine Straftat unterstützen. Es muss schon ein Eventualvorsatz in Form eines Wissens oder Verdächtigens vorhanden sein, dass das, was der Haupttäter geleistet haben will, einer Straftat dienen soll.
Abgewandeltes Beispiel: Der Choleriker A marschiert zum B, um die Axt auszuleihen, und murmelt vor sich hin: "Ich bring die Schlampe um".
Hier ist die Sache klar, B weiß oder muss wissen, was passieren wird. Im Ursprungsbeispiel wirkte A aber nur so unleidlich wie immer ("cholerischer Nachbar"). Daher durfte B aus Sicht des Rechts gedankenlos bleiben.
Das ist insofern relevant, als Irmgard F. vielleicht in manchen konkreten Situationen wissen oder den Verdacht haben musste, dass sie Morde unterstützte.
Beispiel: Sie hackt ein Bestellformular für Munition in die Schreibmaschine.
Aber musste sie das immer wissen können, in jeder einzelnen Minute ihrer Arbeit (denn so wurde sie vom LG Itzehoe behandelt)?
Mein Herz will sagen: Ja, musste sie.
Mein Kopf weiß aber, dass ich das unmöglich beweisen kann. Eben deswegen stellt das Recht ja auch auf die nicht nur unerheblichen Tatbeiträge ab, es soll und kann nicht jeder noch so kleine Beitrag, der im Sinne der Schmetterlingstheorie erbracht wird, verfolgt werden.
Extremes Beispiel: Irmgard F. bestellt Klopapier für die Unterkünfte der SS.
Musste sie in diesem Moment wissen oder den Verdacht haben, dass sie das Morden unterstützt? Ich halte das für schlechterdings nicht begründbar, die Schergen hätten auch Zeitungspapier zum Abwischen oder sogar mit verdreckten Hosen morden können.
Die Sache ist nur: Bis vor kurzem hielt auch der BGH das nicht für begründbar. Deshalb hat er, irgendwann so um 2010 herum, dafür die Fiktion des Solidarisierens entwickelt. Dafür wurde F. denn auch bestraft: Dass sie, indem sie im KZ freiwillig arbeitete und sich passiv verhielt, sich mit den Tätern solidarisierte, und schon dadurch deren Taten Vorschub leistete.
Das mag sich im Extremfall KZ-Gehilfin irgendwie richtig und gerecht anfühlen, ist aber ziemlich radikal und folgenschwer.
Extrembeispiel: "Wutbürger" A postet in den sozialen Medien, dass er am liebsten dem nächsten Politiker, dem er begegnet, eine Backpfeife verpassen will. Der ebenfalls politisch unzufriedene B liest das und klickt auf 'Gefällt mir'. A ist begeistert, dass andere denken wie er, zieht los und greift einen Politiker an. Ist B also ein Mittäter des A?
Es gibt unzählige Fallkonstellationen, wo man jetzt ein "Solidarisieren" bejahen könnte.